Podiumsgespräch am Comenius-Kolleg

„Rutscht Brasilien in die Diktatur ab?“ Die Frage des Podiumsgesprächs im Comenius-Kolleg macht Angst. Angst, die die langjährigen Brasilien-Kenner Judith Amshoff und Udo Lohoff, Geschäftsführer des Vereins Aktionskreis Pater Beda, den mehr als 60 Frauen und Männer im Foyer am Dienstagabend nicht nehmen können.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(Foto: Sarah Kleine-Katthöfer)

Gemeinsam mit Bernd Lobgesang, Lehrer und Eine-Welt-Koordinator am Kolleg, das seit seiner Gründung intensive Beziehungen zu dem südamerikanischen Land pflegt und seit Anfang 2018 unter der Trägerschaft der Deutsch-Brasilianischen Studienstiftung St. Antonius steht, wagen die Experten einen Blick in die Zukunft.

„Es war schockierend für mich“, sagt Amshoff mit Blick auf ihren Brasilien-Besuch im August 2018, zwei Monate vor der Wahl des Rechtspopulisten Jair Bolsonaro zum Präsidenten. Extreme Armut, Kriminalität, Korruption und Angst, alles habe sich nur um Politik gedreht, erinnert sich die junge Frau an einen mehr von Emotionen und Fake-News als von Fakten bestimmten Wahlkampf. Amshoff fand es nur „schwer nachvollziehbar, wie man so jemanden wählen kann“.

Bolsonaro steht für Todesstrafe, Folter und „Waffen für alle“ und ist gegen sämtliche Minderheiten sowie den Schutz der Umwelt und des Regenwalds. Den Aktionsspielraum von Nichtregierungsorganisationen will er einschränken. Was unter diesen Umständen aus Projekten wie den „Kleinen Propheten“ wird, die täglich 50 bis 80 zum Teil schwer traumatisierten Kindern und Jugendlichen den Zugang zu Essen und Bildung ermöglichen, fragt sich nicht nur Judith Amshoff, die sich vom wichtigen Engagement der Einrichtung überzeugen konnte.

Die Spaltung der Gesellschaft sei inzwischen so weit fortgeschritten, dass innerhalb der Familien die Anhänger des neuen Präsidenten und die der PT, der linksorientierten Partei der Arbeiter, nicht mehr zusammen Weihnachten feiern wollten, weiß Udo Lohoff. Wie Amshoff ist er überzeugt, dass das Land auf einem guten Weg gewesen sei, auch wenn die Linken in den vergangenen Jahren nicht alle Probleme hätten lösen können.

Die Tatsache, dass Bolsonaro alles rückgängig machen wolle, was die Linken in den vergangenen 20 Jahren gemacht hätten, sei verheerend, sind sich die beiden Experten einig. „Noch nicht Militärdiktatur, aber wenn wir ehrlich sind, da geht es hin“, zitiert Udo Lohoff die Befürchtungen von Menschen vor Ort.

Wie es überhaupt soweit kommen konnte, dass im zweiten Wahlgang 55 Prozent der Wahlberechtigten für den frauen- wie schwulenfeindlichen und rassistischen Ex-Militär Bolsonaro stimmten, sahen die Teilnehmer auf dem Podium und im Publikum zum Teil darin begründet, dass viele Brasilianer nur wenig über ihr eigenes Land wissen. Das „heiße Eisen“ der bis 1985 mehr als zwei Jahrzehnte währenden Militärdiktatur sei aus Angst vor einer erneuten Machtübernahme nicht so recht aufgegriffen worden, die Aufarbeitung eher schleppend verlaufen, bedauerte Lobgesang.

Das bestätigte ein Comenius-Kollegiat aus eigener Erfahrung. Er habe in seiner Schulzeit nichts über Diktatur, Folter und Verfolgung erfahren, versicherte er.

Zur qualitativ schlechten Schulbildung komme bei vielen Menschen ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das sie davon abhalte, sich zu wehren oder sich an Demonstrationen zu beteiligen, zeigten sich andere Besucher überzeugt. Wie es mit Brasilien weitergeht? „Ich kann mir das, was wir seit Bolsonaros Amtsantritt vor sechs Wochen erleben, nicht für vier Jahre vorstellen“, sagte Udo Lohoff mit Blick auf dessen Amtszeit bis 2023.

 

(IVZ vom 13. Feb. 2019)

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