Text: Crux fidelis, inter omnes arbor Heilig Kreuz, von allen Bäumen einzig 
Una nobilis Höchster Ehre wert;
Nulla silva talem profert keiner ist Dir zu vergleichen
Fronde, flore, germine je an Blättern, Blüten, Frucht;
Dulce lignum, dulces clavos kostbar Holz an kostbar Nägeln
Dulce pondus sustinet. Eine kostbar Last uns trägt.
Ecce lignum Crucis, Seht das Holz des Kreuzes, an dem das Heil 
in quo salus mundi pependit. der Welt gehangen.

Die Kreuze, die wir sonst anschauen, sind so ganz anders als dieses Kreuz von Arnulf Rainer*. Meist sind sie wohlgestaltet von Künstlern verschiedenster Epochen. Sie sind so glatt und oft fehlt Ihnen das Provozierende, das dieses Symbol des Christentums seit der ersten Pflasterkritzelei in Rom hatte. Ein Marterwerkzeug, ein in die Erde gerammter Holzpfahl, den die Griechen ’stauros‘ und die Römer ‚lignum‘ nannten.
Warum ist das so? Etwa weil das Kreuz ins Gerede gekommen ist, tausendfach gebraucht und missbraucht. Halten die Menschen das Kreuz nicht mehr aus? Sicherlich gehen die Menschen unterschiedlich mit dem Kreuz um. Für manche ist es Ausdruck persönlicher Frömmigkeit, ein Zeichen des Heils, ein Kultbild, eine Amulett, ein modischer Schnickschnack, für wieder andere unerträgliche Provokation, ein unzumutbares Schreckgespenst für Kinder, Zeichen morbider Dekadenz und Auslöser unbändigen Hasses. Da scheint es manchem besser, das Kreuz für eine Zeit zurück zu nehmen, es abzuhängen bis das Gerede verstummt. 

Arnulf Rainer geht dem Kreuz nicht aus den Weg. Er durchkreuzt diesen Korpus eines Menschen zwar mit wilden schwarzen Strichen, als wollt er ihn durchstreichen. Spickt ihn zusätzlich aber mit „Schmerzpfeilen“ und erreicht damit in der Gestalt des Menschen selbst eine Herbheit und Kantigkeit, die des Symbols des Holzkreuzes hinter dieser Gestalt nicht mehr bedarf, der selbst „Kreuzesgestalt“ annimmt. Er sieht den Menschen in seinem Leiden, seinen Widersprüchen, Kämpfen, Sorgen und Nöten, seinen gebrochenen Beziehungen, seiner Einsamkeit und Zerrissenheit. Er schiebt die Schwärze, das Ärgernis, das Todeszeichen nicht beiseite. Die „Schmerzenspfeile“ sind unüberschaubar viele und treffen aus jeder Richtung: Krankheiten, gebrochene Menschen mit gebrochenen Biographien, Leid und Tod. Und so formen sich diese scheinbar wilden Striche mit den „Schmerzespfeilen“ zu erkennbaren Kreuzeslinien, die den Menschen als „durchkreuzte“ Existenz, als „Kreuzesgestalt“ begreifen, der selbst zum Kreuz wird.

Wie geh ich als Betrachtender, Betender, Glaubender damit um? „Durchkreuztes Leben?“ Spüre ich noch die „Kreuzeslinien“ bei den anderen? Berühren mich die Kreuze dieser Welt noch? Oder sitze ich gleichgültig davor, wie die Soldaten unter dem Kreuze Jesu mit meinem Spiel beschäftigt, wobei es heute nicht unbedingt wie damals um Kleidungsstücke geht, sondern um die Haut der anderen, die für Macht, Geltung und Gewinn zu Markte getragen wird? Was kümmern uns die Leiden der anderen, wenn es um Bodenschätze im Irak, Afghanistan und Afrika, um Land in Brasilien, um Macht im Sudan und Simbabwe, um wirtschaftlichen Gewinn geht? Vielleicht sehe ich das ja auch, bin aber in meiner ohnmächtigen Wut so gefangen, dass ich die in der Nähe liegenden Kreuze um mich herum nicht mehr sehe. 

Über die Kreuzeslinien geht daher mein Blick auf die „abgeschlagenen“ Füße des Gekreuzigten, die ein Stehen unmöglich machen. Stelle ich mich noch unter das Kreuz, um mitzutragen an der Not der anderen, um sie wieder auf die Füße zu bringen? Oder feiert nicht auch hier die Ichsucht Triumphe und geht die Solidarität gegenüber Ausgegrenzten und zu kurz gekommenen den Bach hinunter. Warum stehen wir so wenig zu diesen Kreuzen, an denen die Menschen hängen? Sind wir in einem anderen Sinne als dieser Korpus an die Wand genagelt? „Vernagelt“? Ist das Zeichen unseres Glaubens hohl geworden? Warum halten wir es nicht mehr aus unter dem Kreuz, wie es Maria und Johannes es getan haben, denen Jesus auftrug, sich umeinander zu kümmern? Joh.19,26-27.

Doch es gibt Tröstung. Mit seinem Schatten scheint uns das Bild aufzufordern, uns in den Schatten des Gekreuzigten zu stellen. Wir müssen nicht mehr ausblenden, dass wir alle selbst unter dem Kreuz des Todes stehen und nur eine Chance haben in der Solidarität als Schwestern und Brüder desjenigen, der am Pfahle hängt und durch den Gott uns in Ez 9,6 sagen lässt: „Von denen, die das Tau auf der Stirn tragen, dürft Ihr keinen anrühren.“ Das muss wohl Franziskus, der Kreuzesmystiker, ähnlich empfunden haben, als er das T (tau), jenes T-Kreuz, das auch im Emblem unserer Schule ist, zu seinem Zeichen und zum Zeichen seines Ordens machte. So gibt dieses Bild am Schluss Hoffnung, dass die Kreuze dieser Welt durch Jesus Christus überwunden werden. Diese Hoffnung befähigt uns, unsere Hände und Füße zu leihen, damit überall dort, wo die „Kreuzeslinien“ uns begegnen, wir unseren Protestschrei loslassen und die „Schmerzenspfeile“ zu mildern suchen? 

Seit der Taufe sind wir, die wir Christi Zeichen, sein Kreuz, auf der Stirn tragen Kreuzträger und seinem „Kreuzweg“ verpflichtet. Kreuzwege sind aber keine Touristenwege! Kreuzwege müssen gegangen werden im Mitleiden, im Miterleben des Weges Jesu. Vielleicht finden wir in der Karwoche beim Kreuzweg und bei der Kreuzerhöhung wieder zurück zur ursprünglichen Kreuzesbotschaft: „ecce lignum crucis, in quo salus mundi pependit- seht das Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen“, die zugegebenermaßen nicht leicht verdaubar ist. Sie bleibt ein Skandalon! War sie doch, wie Paulus (1 Kor 1,23-24) sagt: „den Juden ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit, für uns Christen aber Gottes Kraft und Weisheit“. Jene Kraft und Weisheit eben, die uns mit der Hoffnung erfüllt: „crux spes unica“, die aus dem Glauben an den Gekreuzigten kommt, dass der christliche Gott ein mitgehender Gott ist auf der dunklen Spur der Menschen.

* Arnulf Rainer, Kruzifix mit Schmerzenspfeilen und Kreuzlinien, in: Jürgen Knubben: via crucis, das Kreuz in der Kunst der Gegenwart S 86

Meditation von Franz Voß vom Montag, dem 23.3.2009, in der Kapelle des Studienheims.

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