sondern Ton, von der Erde genommen, Ausgebrochen der Kopf, die Öffnung des Halses freigebend, die Oberarme herausgebrochen, nach unten ausgeweidet. Ein Stück Fleisch, auf den Spieß gesteckt! Preisgegeben und feilgeboten! Ein ziemlich düsteres Bild vom Menschen, oder wie ein Kollege bei der ersten Betrachtung einer der Figuren zu mir sagte: Karfreitag pur!
Eine kaum auszuhaltende Provokation? Worauf soll meine Betrachtung gelenkt werden?
Ist es dieses: Ecce Homo! Seht, (das ist) der Mensch! Der Corpus Christi, millionenfach geschändet und zerschlagen, der Mensch, buchstäblich ein Torso seiner selbst. „Was ist der Mensch, das Du seiner gedenkst?“ Ps.8,5a
Ist es der Corpus Christi Mysticum, die Kirche, deren Botschaft vom Gekreuzigten – dieser „Lichterfüllte Abgrund“, wie Kafka sagt, in Europa verdunkelt, zerbröselt und verdunstet und damit dem Verfall preisgegeben ist?
Ist es das große Vergessen, die heutige Verdrängung der Endlichkeit des Menschen: „Da formte Gott der Herr den Menschen aus Ton vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem“, Gn. 2,7. dass der Mensch nicht mehr weiß, woher er kommt, worauf Ursula Kessel verweist?
Wie soll ich mich dieser Skulptur nähern? Es gibt verschiedene Möglichkeiten mit diesem „Bruchstück“ umzugehen. Man kann es einfach wegschieben oder sogar verwerfen. Wozu ist das nütze, dieses dauernd Herumwühlen in depressiven Gedanken und Vorstellungen, das uns nur handlungsunfähig macht und nur dazu führt, dass wir uns gelähmt, als unbrauchbar und sinnlos erfahren. So wie jährlich dreißigtausend junge Menschen ihr Leben wegschmeißen wollen, weil sie sich nutzlos und sinnlos vorkommen und dadurch am Ende sind. In diesem Sinne wäre auch das eine Lösung? Aber heißt es nicht in der Schrift: „Spricht etwa der Ton zu seinem Bildner, was machst Du mit mir, und zu dem, der ihn verarbeitet, du hast kein Geschick?“ Is 45,9
Vielleicht lohnt es sich ja auch, dieses Bruchstück einmal länger anzuschauen, es auszuhalten, mit ihm zu ringen. Sicher – ein Bruchstück bleibt ein Bruchstück-, aber: Weisen nicht auch Fragmente oft noch die Erinnerung des Ganzen auf?
Da fällt mir zunächst auf, dass der Torso sehr kompakt, stark, in einem kraftvollen Schwarzgrau mit einer spröden Glasur uns entgegenkommt, die leichte Verletzungen am Halsstumpf und unter den Armen aufweist. Das fragile Material lässt die Brüchigkeit des Corpus assoziieren. Bei der geringsten Berührung löst sie sich vom Ton und hervortritt der warme, rotbraune Unterton der Erde. Die scheinbar starke Fassung löst sich bei der kleinsten Berührung auf. Geschieht da nicht etwas Geheimnisvolles, verborgen atmet die Materie Ton noch den Geist des Bildners, wie der Ruach Jahwe, der Geist Gottes die Materie formte, als er den Menschen schuf. „Wir sind der Ton und Du unser Töpfer, wir alle sind das Werk Deiner Hände.“ Is 64,7. So geschieht etwas Paradoxes, die Bilder der Genesis und das Bild der Skulptur verschieben sich ineinander: In beiden atmet die Materie die Idee des Schöpfers. Vielleicht ist es das ja, was Ursula Kessel uns hilft neu zu entdecken? 
Sollen wir uns vielleicht erinnern? Und es ist wäre eine „gefährliche“, weil schwarze Erinnerung für uns! Aber muss man sich nicht erinnern an das, was zu Bruch gegangen ist in unserem Leben, um es zurücklassen zu können, um dann zu erkennen, dass doch vieles mit uns geschehen ist im Verborgenen, was sich im Hegelschen Sinne aufzuheben lohnt und des hinauf gehoben Werdens , der Vollendung hart und nicht einfach weg ist. Es gibt keine Amnestie beim Werden, man muss gleichsam die Erde, den Ton, die Erdhaftigkeit annehmen, bevor man die Glasur des Glücks darüber ziehen kann. Die ersten Christen hatten ein Bild dafür: den Phönix aus der Asche, kein Todesbild, sondern trotz allem ein Bild der Hoffnung und Zuversicht, wie im Tod das Leben beginnt. Es geht um das Leben, Leben vor dem Tod, dem wir ins Antlitz schauen sollen. 
Aber noch ein weiteres, warum es gilt, Ursula Kessels: Corpus Christi, dem Tod preisgegeben, auszuhalten. „Der Herr fand Gefallen an seinen zerschlagenen Knecht, er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab.“ Is 53,10. Jeden Sonntag wird die Erinnerung an den lebendig gehalten, dessen Botschaft von der entgrenzenden Liebe alle für gescheitert hielten, der wie Brot gebrochen und wie ein Lamm geschlachtet wurde und schließlich wie ein Stück Fleisch auf den Pfahl des Kreuzes gehängt wurde. Und das nicht nur damals. Vielleicht meint die Künstlerin die Fortsetzung dieser Kreuzigung Christi mit anderen Mittel die ganze Geschichte hindurch: vom Martyrium der ersten Christen über die Verfolgung Andersdenkender in der frühen Kirche, den Kreuzzügen und Religionskriegen, der Folter der Inquisition und Hexenverfolgung, des millionenfachen Holocausts, bis hin zu der Demütigung, Vergewaltigung, des Missbrauchs und der ungezählten Ermordung von Menschen in unseren Tagen. Der Corpus Christi, der Mensch, millionenfach geschunden. „Christus essen“, heißt eine Auschwitz Skulptur von Joseph Beuys, vielleicht ist das die Provokation von Ursula Kessel? Das tut die Kirche und solange sie in ihrem „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ in der Kreuzesgemeinschaft mit Christus den Opfern der Weltgeschichte einen Platz gibt, wird ihre Botschaft gehört.
Und noch ein drittes: Dieser Torso ist so klein, dass er bequem in eine menschliche Hand passt, ja fast behutsam von einer Hand umfasst werden kann. Wir tragen unsere Hoffnung in irdenen Gefäßen. „Memento homo, quia pulvis es, et in pulverem reverteris“. Will Ursula Kessel das sagen, dass der Tod und unsere fragile Existenz nicht mehr wahrgenommen werden, verdrängt werden, die wir Meister der Verdrängung sind- Karneval ist gerade vorüber, die große Verdrängung-? Nennt sie deshalb diese kleinen Skulpturen liebevoll meine kleinen 12 Apostel? Apostel sind Botschafter, Gesandte, stehen für eine Glaubensüberzeugung: Sieh, ich habe dich eingezeichnet in meine Hand. Is 49,16.
So lasst uns in dieser Fastenzeit diesen Torso von Ursula Kessel nicht bei Seite schieben oder gar verwerfen. Der Ton ist nichts ohne den Geist des Bildners. Durch ihn aber alles: „Denn Gott weiß, was wir für Gebilde sind: er denkt daran, wir sind nur Staub.“ Ps. 103,14. Das tröstet, dass Gott in dem zerschlagenen menschlichen Corpus ein Mitmensch ist auf unserer dunklen Spur – nennt Ursula Kessel ihn doch Christus – Gesalbter – und unser zerbrochen sein heil macht. Vertrauen wir dem, was Paulus schreibt: „Ist nicht der Töpfer Herr über den Ton?“ Röm. 9,21. Nehmen wir diesen kleinen Torso von Ursula Kessel gleichsam in die Hand, berühren wir ihn, durch Gebrauchsspuren d. h. durch „Glauben“ zerbricht die schwarze Hülle des Todes und hervortritt der warme Ton des Lebens. Kratzen wir ein wenig an dem „Ecce Homo“, an dem, „dem Verfall preisgegebenen Corpus Christi“, um zu erkennen: Vielleicht klebt ein Funken der Erinnerung an ihm, die der Gründonnerstag verheißt: „Es naht die Nacht, und das ist zwar heut, bald aber wird Ostern sein.“
Schluss: 
Musik: „Alleluia. Pascha nostrum immolates est Christus.“ Choralschola Frankfurt – Riederwald unter Leitung von Peter Reulein

Ursula Kessel, Timmendorfer Strand, geboren in Syke, hat von 1981 – 2006 überwiegend bildhauerisch gearbeitet Bis 2002 entstanden Skulpturen und Objekte aus Stein, gebranntem Ton und Papier, sowie Bronze. Danach wand sie sich der Fotographie als künstlerisches Ausdrucksmittel zu.
Wir danken Ursula Kessel für die Erlaubnis, das Bild der genannten Skulptur zusammen mit dieser Fastenmeditation veröffentlichen zu dürfen.

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